Die biologische Entwicklung zum Mann

Die Beurteilung der Sexualität des Menschen muss in ihren drei Grundlagen erfolgen, der Biologie, der Psyche und der Sozialisation, die immer und zu jeder Zeit untrennbar miteinander verknüpft sind. Alles andere wäre eine unzulässige Verkürzung der menschlichen Sexualität und muss zu Fehlern in Diagnose und Therapie führen. Erfahrungsgemäß wird aber heute vor allem der Biologie nicht jener Stellenwert eingeräumt, der ihr gebührt. Behauptungen, dass Neugeborene „sexual nobodies“ sind, und dass deren geschlechtliche Realität erst durch das soziale Leben geprägt wird, sind längst widerlegt und daher zurück zu weisen.

Es gibt seit 3,8 Milliarden Jahren Leben auf unserem Planeten, nur einen Bruchteil davon gibt es Zweigeschlechtlichkeit, also „Männer“ und „Frauen“. Möglicherweise ist das Y-Chromosom wirklich ein „Irrtum der Natur“. Evolution funktionierte schon immer nach dem Random-Prinzip; Faktum ist, dass der „Mann“ aus dem „Weiblichen“ hervorgegangen ist und eine Maskulinisierung im biologischen Sinne einer Defeminisierung gleichkommt. Dieses Wissen ist eine unbedingte Voraussetzung, um die im Folgenden geschilderten Vorgänge zu verstehen.

Für die somatosexuelle Entwicklung gilt grundsätzlich das „Prinzip von der Bipolarität der Anlage“. Erst mit dem Beginn der 9. Schwangerschaftswoche entwickelt sich die zunächst bipolar angelegte Zygote in Richtung männlich oder weiblich, je nachdem welche „Zutaten“ beigemengt werden. Weil die Entwicklung eines „männlichen“ Fötus eines höheren Aufwandes bedarf, spricht man vom „Prinzip von der höheren Aufwendung für das männliche Geschlecht“.

Jungen erweisen sich gegenüber Mädchen als biologisch instabiler. Dies ist unter anderem daran zu erkennen, dass Jungen bei gleichem Geburtsgewicht unreifer sind als Mädchen und dass 125 Jungen auf 100 Mädchen gezeugt werden, aber nur 106 auf 100 zur Welt kommen. Es ist also für eine Frau wesentlich riskanter zu einem Jungen schwanger zu sein als zu einem Mädchen. Diese Fakten implizieren das Prinzip von der größeren Störanfälligkeit gewisser Entwicklungsschritte für das männliche Geschlecht und das Prinzip von der größeren biologischen Stabilität für das weibliche Geschlecht.

Mädchen treten deswegen nicht nur früher in den ersten kindlichen Gestaltwandel ein, sondern kommen auch um etwa 2 Jahre früher in die Pubertät. Unter anderem ist dies das Zeichen für den stets vorhandenen  Entwicklungsvorsprung für die Mädchen, der wieder als Ursache dafür gilt, dass Jungen bis zum Ende der Pubertät in schulischen Leistungen den Mädchen hinterherhinken, und erst später aufholen.

Der erste Entwicklungsschritt in der somatosexuellen Entwicklung des Menschen ist die Verschmelzung einer Eizelle mit einer Samenzelle (chromosomale Ebene). Durch die Verschmelzung zweier haploider Chromosomensätze entsteht ein diploider mit zwei Geschlechtschromosomen, wobei „XX“ als weiblich, „XY“ als männlich konnotiert wird. Weil Männer und Frauen über das X – Chromosom verfügen und somit über dessen Gene ist das X-Chromosom nicht typisch für eines der beiden Geschlechter, geschlechtstypisch ist allenfalls seine Anzahl, wobei Frauen mit auch nur einem einzigen X-Chromosom (Genotypus X0) ebenso einen weiblichen Phänotypus aufweisen (Turner-Syndrom).

Auf der chromosomalen Ebene bedeutet  somit „männlich“ über eine „Y“ – Chromosom zu verfügen, „weiblich“ hingegen nicht über ein „Y“ – Chromosom zu verfügen. Die Existenz oder Nichtexistenz dex Y-Chromosoms entscheidet in dieser Entwicklungsstufe über das chromosomale Geschlecht.

Unter dem Einfluss der Gene des Y – Chromosoms wird die bipolar angelegte Urgonade (Prinzip von der Bipolarität der Anlage) in Richtung Hoden differenziert. Gibt es kein „Y“ – Chromosom entwickeln sich Eierstöcke (gonadale Ebene). Alle weiteren phänotypischen Unterscheidungsmerkmale zwischen Männern und Frauen sind nicht chromosomal, sondern hormonell bedingt.

Die hormonelle Ebene in der somatosexuellen Entwicklung des Menschen beginnt ziemlich abrupt mit dem Beginn der 9. Schwangerschaftswoche. Sie ist der Beginn für die geschlechtssdifferenzierende Ausgestaltung der heranwachsenden Zygote, vor allem von deren Genitalien und Gehirn, wobei sich auch hier die Entwicklung zum Jungen als wesentlich komplizierter und daher auch störanfälliger darstellt. Während die Entwicklung der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane wieder ohne besondere „Zutaten“ abläuft, besteht für Jungen die Besonderheit darin, dass in der Schwangerschaft in einem weiblichen Körper, dem der Mutter, ein männlicher Körper heranwächst. Die dafür erforderlichen großen Mengen an Testosteron werden schon in diesem frühen Entwicklungsstadium im eigenen Hoden gebildet. Das dafür unverzichtbare Gonadotropin (LH) stammt allerdings von der Mutter, dies alles ist – wie man unschwer verstehen kann – ein hochkomplexer Vorgang.

Die erste Androgenspitze (9.-18. SSW) eines Mannes, in der große Mengen an Testosteron ausgeschüttet werden, dient also dazu um die äußeren Genitalien geschlechtsdifferenzierend auszugestalten, die bis zu diesem Zeitpunkt als Urgenitalien bipolar angelegt sind.

Während die Umwandlung der bipolar angelegten Urgenitalien in Richtung weiblich ohne besonderen Aufwand vonstatten geht, bedarf es für die Umgestaltung in Richtung „männlich“ großer Mengen an Testosteron, des entsprechenden Gonadotropins (LH), des Testosteronmetaboliten Dihydrotestosteron samt dessen Syntheseenzyms 5-alpha-Reduktase. Störungen in diesem hochkomplizierten Vorgängen machen sich durch Fehlbildungen, etwa Hypospadien, Kryptorchismus oder Intersexsyndromen bemerkbar.

All diese Zusammenhänge sind für das Verständnis pathologischer Vorgänge von eminenter Bedeutung. So wurde an Nagetieren bewiesen, dass nicht das chromosomale Geschlecht für die Ausgestaltung der äußeren Geschlechtsorgane verantwortlich ist, sondern die Konzentration an Testosteron zum Zeitpunkt rund um die 9. SSW.

Konkret entwickeln chromosomal weibliche Jungtiere die ohne über funktionstüchtige Hoden zu verfügen intrauterin mit hohen Dosen von Testosteron behandelt wurden, männliche (äußere) Geschlechtsorgane, aber weibliche innere Geschlechtsorgane. Dieses Wissen ist erforderlich für die Beurteilung von Intersexsyndromen, zu denen ich mich am Ende dieses Artikels äußern werde.

Auch die Differenzierung der inneren Geschlechtsorgane (gonoduktale Ebene) läuft nach einem ähnlichen Muster.

Bei den Mädchen entwickeln sich die inneren Geschlechtsorgane – Scheide, Uterus und Eileiter – aus den Müller`schen Gängen, die sich ohne weiteres Zutun gegenüber den Wolff`schen Gängen durchsetzen. Entsprechend dem Prinzip des höheren Aufwandes für das männliche Geschlecht bedarf es auch für die Entwicklung der inneren Geschlechtsorgane der Männer (Prostata, Samenwege) einer weiteren besonderen Substanz, dem Antimüllerhormon. Unter seinem Einfluss entwickeln sich die Wolff`schen Gänge während die Müllerschen Gänge zurückgedrängt werden. Ihre Reste kennt man in der Anatomie als Anhängsel an Prostata (Utriculus prostaticus) und Hoden (Appendix testicularis).

Ein besonderer Streitpunkt zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern ist die geschlechtstypische Ausgestaltung des Gehirns. Gleich zu Beginn daher die Frage: „Gibt es überhaupt ein männliches oder ein weibliches Gehirn, oder sind Unterschiede in Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität wirklich nur sozialisiert?“ Genau dies wird nämlich immer wieder behauptet, obwohl die moderne Wissenschaft das Gegenteil bewiesen hat.

Anders als Genitalien sehen die Gehirne von Männern und Frauen anatomisch gleich aus, das ist der Grund warum geschlechtstypische Unterschiede so schwer zu akzeptieren sind. Heute gibt es wissenschaftliche Methoden, mit denen bewiesen werden kann, dass Gehirne von Männern und Frauen trotz fehlender anatomischer Unterschiede unterschiedlich funktionieren. Der Unterschied liegt also in der Funktionalität, nicht in der Anatomie. Über diese Thematik gibt es inzwischen reichlich Literatur. Das wohl einfachste Beispiel für die unterschiedliche Funktion anatomisch gleich aussehender Hirnareale ist die Hypophyse: dort gebildete Gonadotropine werden bei Frauen zyklisch, bei Männern tonisch ausgeschüttet.

Das gültige Androgenisierungsmodell  geht davon aus, dass sich das Gehirn in Anhängigkeit von vorhandenen oder fehlenden Androgenen pränatal geschlechtstypisch organisiert. (Woodson&Gorski 1999, Hines 2003). Nicht nur, aber im Besonderen umfasst dies die Sexualzentren, die auch für die spätere sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität verantwortlich sind.

Für die geschlechtstypische Entwicklung des Gehirns sollen noch zwei weitere, postnatale Androgenisierungsspitzen erwähnt werden, mit denen in Abhängigkeit des vorhandenen oder fehlenden Testosterons (und DHT) wichtige Schritte für die weitere Entwicklung als Mann oder Frau gesetzt werden: in der zweiten bis vierten Lebensstunde und vom 60. bis zum 90. Lebenstag. Danach erlischt die prae- und perinatale Testosteronproduktion im Hoden um schließlich mit dem Erreichen der Pubertät mit Vehemenz wieder zum Leben erweckt zu werden. Die Pubertät ist lediglich ein relativ kleiner Schritt in der postnatalen somatosexuellen Entwicklung des bereits in Richtung Mann oder Frau geschlechtsdifferenziert entwickelten Jungen oder Mädchens. Im Gegensatz zur pränatalen sexuellen Entwicklung besitzt sie eine geringe somatische Störanfälligkeit, bedingt durch den Wandel vom Kind zum Erwachsenen ist sie aber eine große psycho-soziale Belastung für die Betroffenen und deren Eltern.

Weitere wichtige Schritte in der postnatalen somatosexuellen Entwicklung ist die Zeit des Klimakteriums bei Männern und Frauen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann (siehe => der Wechsel des Mannes).

Abweichungen in der pränatalen somatosexuellen Entwicklung des Menschen führen zu sogenannten „Intersexsyndromen“, die ich hier ganz bewusst nicht als „Störungen“ bezeichnen möchte. Betroffene und deren Vertreterorganisationen bemühen sich, solche Erscheinungsbilder zu entpathologisieren und als das „dritte“ Geschlecht zu etablieren. Dennoch sind zunächst die Eltern von intersexuellen Kindern, später auch die Betroffenen vor schwerwiegende Entscheidungen gestellt. In welchem Geschlecht soll das Kind aufgezogen werden?  Welche Behandlungsmaßnahmen sind erforderlich und sind überhaupt Behandlungsmaßnahmen erforderlich?

Mit welcher Maßnahme kann mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit eine Übereinstimmung zwischen dem Zuweisungsgeschlecht und der Geschlechtsidentität erreicht werden (Beier, Bosinski, Loewit „Sexualmedizin“).

Das Verständnis für das Zustandekommen von Intersexsyndromen bedarf eines fundierten Wissens. Umgekehrt beweisen gerade sie diese nicht immer leicht verständlichen Zusammenhänge, die – weil im Verborgenen abgelaufen – nicht selten negiert werden. Das Wissen über die Biologie der Sexualität zeigt, dass Sexualität eben nicht beliebig formbar ist. Das Verständnis dafür zu fördern ist der tiefere Sinn dieses Artikels.

Dr. Georg Pfau