Geschichte der Sexualmedizin

(Zuletzt bearbeitet im August 2021).

Gemessen an der Kurzlebigkeit unserer Epoche, könnte man sagen, Sexualmedizin wäre nicht neu, doch im Vergleich mit den Anfängen der Medizin, die weit in die Antike und sogar in die Prähistorie zurückgehen, ist Sexualmedizin ein ultraneues Fach, gerade einmal 150 Jahre alt (Sigusch). Nicht umsonst ringen die Sexualmediziner noch um Anerkennung, kämpfen mit teilweise sehr rigiden Instanzen, die ihr die blosse Daseinsberechtigung einfach absprechen wollen.
Im Europäischen Kulturkreis wurden die Belange der Sexualmedizin von der Kirche verwaltet, die auch heute noch für sich in Anspruch nimmt, oberste Instanz in Fragen der Sexualmoral zu sein. Die Naturwissenschaften haben sich unter dem Praejudiz der Kirche nur sehr zögerlich entwickelt und als Wilhelm vom Humboldt 1795 die „Erforschung der menschlichen Geschlechtlichkeit als Basis für die Erforschung des Menschen“ forderte, war es wohl kein Zufall, dass dies in einem von einem protestantischen Fürsten regierten Land erfolgte.

So war es auch in Berlin, als im Jahre 1906 der Dermatologe Ivan Bloch das Fach „Sexualwissenschaft“ begründete und im Jahre 1919 der Allgemeinmediziner Dr. Magnus Hirschfeld das weltweit erste Institut für Sexualmedizin gründete. Unter seiner Führung wurde die „Sexualmedizin“ erstmals systematisch erforscht und auch die Bereich der Lehre und der Klinik wissenschaftlich fundiert abgedeckt. Wie nicht anders zu erwarten, haben visionäre Wissenschafter vom Format eines Magnus Hirschfeld auch Feinde und so ist es nicht verwunderlich, dass das Institut von den in Deutschland bereits 1933 an die Macht gekommenen Nazis umgehend geschlossen wurde. Mit dem ausdrücklichen Wohlwollen Adolf Hitlers wurden die Institutsräumlichkeiten devastiert, die Büste Magnus`Hirschfeld aufgespiesst aus dem Gebäude getragen und das wissenschaftliche Werk in der ersten Bücherverbrennung am 11. März 1933 vernichtet. Magnus Hirschfeld flüchtete nach Nizza, wo er schliesslich auch verstarb.

Das Bild zeigt das Hauptwerk Magnus`Hirschfelds, von dem ich ein Original besitze.

Das Institut wurde erst wieder nach der Deutschen Wiedervereinigung im Jahre 1996 etabliert. Es ist nach wie vor das einzige universitäre Institut für Sexualmedizin im deutsch-österreichischen Raum, sein wissenschaftlicher Leiter ist derzeit Univ.Prof. Dr.Dr. Claus M. Beier.

Zur Zeit Hirschfelds wirkte in Wien Sigmund Freud. Sein primäres Streben bestand in der Gründung einer psychoanalytischen Schule, die Bedeutung für die Sexualmedizin ist wohl damit begründet, als er die Sexualität in das Zentrum der menschlichen Persönlichkeit stellte. Diesem wohl berühmtesten Arzt Österreichs erging es nicht viel besser als Hirschfeld, sein Traum von einem eigenen (Universitäts-) Institut wurde niemals erfüllt und auch er wurde hochbetagt und todkrank 1938 von den Nazis zur Emigration nach London gezwungen. Bevor er am 4. Juni mit seinen engsten Vertrauten den Orientexpress bestieg, musste er noch einen Erklärung unterschreiben, die bestätigte, dass er – Freud – von der Gestapo mit der „seinem wissenschaftlichen Rang gebührenden Achtung und Rücksicht behandelt wurde“. Er schloss diese Erklärung mit den Worten „Ich kann die Gestapo jedermann auf Beste empfehlen“, eine Bemerkung, die wegen ihrer Doppeldeutigkeit an Wagemut nicht zu überbieten war. Es war aber nicht das Wohlwollen der Gestapo, sondern seine ausserordentliche Reputation im Ausland, der er sein Leben verdankte. Für seine Ausreise intervenierten u.a. die Amerikanische Regierung einschliesslich des Präsidenten Roosevelt, der Kanzler des United Kingdom und Mussolini. Er verstarb am 23. September 1939 im Londoner Exil. Vier seiner Schwestern wurden 1942 im KZ Auschwitz ermordet.

Hirschfeld und Freud stammten neben vielen anderen Sexualwissenschaftern (Ulrichs, Bloch, Marcuse) aus jüdischen Familien. Auch dies ist nicht zufällig, die Begründung hierfür könnte in den unterschiedlichen Denktraditionen von Juden und Christen liegen. Sicher ist aber, dass die Nazis nicht zuletzt deswegen die Vernichtung der (deutschen) Sexualmedizin betrieben, was ihnen auch gelang. Volkmann Sigusch schreibt in seinem Buch „Geschichte der Sexualwissenschaft“: „Von dem Schlag, den der Nationalsozialismus der Sexualmedizin versetzt hat, wird sie sich nie erholen können. Vor der Nazi-Zeit hatte die deutsche Sexuologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts den Ton angegeben. Nach der Nazi-Zeit wurde immer stärker die US-amerikanische Sexuologie beachtet, zunächst vor allem in der Gestalt des Kinsey-Reportes.“
Die Sexualmedizin als interdisziplinäres Fach nach dem Muster der Charité war in Österreich bislang als gelehrtes Fach nicht existent. Erst in den letzten Jahren gab es von verschiedenen Persönlichkeiten Bemühungen dies zu ändern. Das Jahr 2011 hat nun mit der Etablierung einer Ausbildung für Ärzte zum Fach „Sexualmedizin“ den Durchbruch gebracht. Das wahrhaft denkwürdige Datum war der. 1. September 2011. An diesem Tag wurde in der Bundesärztekammer zu Wien ein österrechweites Sexualmedizin-Diplom implementiert. Das ist, gerade für Österreich, wirklich ein Meilenstein, der die effiziente Tätigkeit der Ärztekammer für das Wohl der österreichischen Patienten unterstreicht.